Heike Niemeier Systemischer Coach + Sexualberaterin

So jung und schon so klar!

Interview mit Tom

Da denkt man immer Jugendliche machen den ganzen Tag nichts anderes als Selfies schießen, Pornos gucken und sich in sozialen Netzwerken rumtreiben. Weit gefehlt. In den letzten Wochen habe ich mit vielen Jugendlichen Gespräche geführt und festgestellt das es hier viel Selbstreflexion und kritische Auseinandersetzung gibt. Ja und ich sehe auch immer wieder Jugendliche in den öffentlichen Verkehrsmitteln, die Bücher lesen, die auch ich schon las. Das erfreut mich sehr. Nachfolgend nun ein Gespräch mit Tom. Tom ist 20 Jahre alt, in Berlin geboren und aufgewachsen und lebt und studiert zurzeit in London.

Was bedeutet für Dich gute erfüllte Sexualität?

Für mich bedeutet das, dass schamlose Ausleben derselben. Also egal was für Vorstellungen/ Fantasien/ Präferenzen meine Partnerin und ich haben, es wird grundsätzlich nichts lächerlich gemacht und nicht geurteilt. Man kann über alles sprechen und fühlt sich vor allem sicher, dies tun zu können.

Was gehört dazu?

Persönlich habe ich keinen Fetisch o.ä., mir ist einfach die Kommunikation auf Augenhöhe am wichtigsten. Alles andere ergibt sich daraus.

Warst Du schon einmal unglücklich verliebt?

Allerdings, ich war schon mal in einer (wenn auch letztendlich kurzen Beziehung), in der das mit dem Vertrauen und der Kommunikation so gar nicht geklappt hat. Bei mir hat sich das dann von der alltäglichen Kommunikation bis zu sexuellen Dingen durchgezogen. Ich denke allerdings nicht, dass das so schlimm ist. ‚Verliebt zu sein‘ ist letztendlich lange nicht alles was es für eine glückliche Beziehung braucht. So habe ich das relativ schnell gelernt.

Das verstehe ich jetzt nicht so richtig. Was bedeutet Verliebtsein für dich? Und meinst du das ein Verliebtsein nicht unbedingt zu einer Beziehung dazu gehört? Auch nicht zu Beginn?

Zu Beginn schon (also zumindest bei mir). Verliebtsein ist für mich zunächst ein Gefühl, welches nicht zwingend auf Tatsachen beruht. Als Konsequenz dessen lernt man sich oft besser kennen, und da fängt dann (unter Umständen) die Liebe an. Verliebt, wie ich es am Anfang meiner derzeitigen Beziehung war, bin ich nicht mehr. Nicht falsch verstehen, ich bin nach wie vor glücklich, aber wir kennen uns nun halt besser und vertrauen einander, wissen was der jeweils andere möchte/braucht. Sowas kann man im Moment des ´Verliebens´ noch nicht vorhersagen – deswegen reicht meiner Meinung nach das Verliebtsein alleine auch nicht für eine Beziehung aus.

Wo lernt man als junger Mann Frauen kennen?

Komische Frage. 

Wieso komisch? Die meisten Menschen nutzen doch heute das Internet dazu.

Na überall, also im Alltag. Schule, Uni, Sport oder was man sonst so in der Freizeit treibt. Selbst übers Internet kann man das ja heute recht gut machen. Wichtig ist vor allem sich nicht von einer schlechten Erfahrung oder zwei entmutigen zu lassen. Nur wenn man sich auf einen Menschen einlässt und ihm somit die Gelegenheit gibt einen zu enttäuschen hat man die Chance ihn wirklich kennenzulernen. Das ist normal und auch nicht nur in der Liebe/ beim Flirten so.

Was wirst Du an Frauen niemals verstehen?

Ich betrachte mich selbst als jemanden der eher logisch als emotional denkt/agiert. Bei meiner Freundin ist das genau andersrum (laut eigener Aussage, die ich absolut bestätige). Das ist an sich nichts Schlimmes, man muss nur lernen damit umzugehen. Im besten Fall wird man so voneinander lernen können. Problematisch wird es, wenn Einer Dinge, die der Andere sagt/ tut sofort persönlich nimmt, anstatt erstmal zu überlegen, wie es eigentlich gemeint war bzw. warum es so gesagt/ getan wurde.

Hast du Werte, die Du auch in einer Beziehung haben möchtest?

Ehrlichkeit, Offenheit, Mitgefühl. Mir ist enorm wichtig, dass vor allem in Momenten, wo die Kommunikation schwierig scheint – also ernste Themen angesprochen werden oder Emotionen hochkommen, nicht versucht wird zu Manipulieren oder irgendwelche Machtspielchen gespielt werden. Ab und an bin ich selbst noch überrascht, wie weit ehrliche und offene Kommunikation einen bringen kann.

Kannst du dazu einmal ein Beispiel nennen?

Meine Freundin hat PCOS *(eine Krankheit die die Periode deutlich heftiger macht und länger andauern lässt). Sie ist quasi eine Woche im Monat vollkommen außer Gefecht gesetzt. Das ist etwas, mit dem man auch erstmal den Umgang lernen muss. Das passierte bei uns dann über viele Gespräche, Erklärungen und letztendlich auch mit viel Recherche meinerseits (so etwas wird einem ja nicht in der Schule beigebracht…). Meine Freundin versucht dann oft so zu tun, als wäre alles in Ordnung, obwohl sie innerlich kurz vor dem Zusammenbruch steht. Sie ist dann immer sehr gereizt, und es kann dadurch schwer werden sich längere Zeit am selben Ort aufhalten. Da hilft halt nur offene Kommunikation, ansonsten sind beide schnell frustriert.

https://www.hormonzentrum-an-der-oper.de/files/content/Broschueren/Hormonzentrum/PCO-Syndrom-Hormonzentrum-an-der-Oper.pdf

Hier besteht die Möglichkeit zum kostenlosen Download der Broschüre „Das PCO-Syndrom. Ein Faszinosum der Evolution.“ die umfassend zu diesem Thema informiert

Was stört Dich an Deiner Generation im Kontext Sex, Partnerschaft, Beziehungen, Freundschaft?

Vor allem die Rollenbilder (Popstars, Rapper, Fernsehgesichter oder Influencer). Also nicht die Existenz der solchen, aber der Umgang junger Menschen mit dem was von solchen Personen vermittelt wird. Wir leben in einer Zeit von fast News, fast Fashion und absurden Idealen der körperlichen Perfektion (was ja letztendlich nur eine rein subjektive Wertung ist). Da vielen jungen Menschen weder von den Eltern, noch in der Schule beigebracht wird mit diesen Wertesystemen richtig umzugehen, führt das zu Einstellungen die gesunden Beziehungen in keiner Weise zuträglich sind. Im Alltag sind es eben nicht die großen, sensationellen Dinge die zählen, sondern es sind die kleinen Dinge, die über kurz oder lang einen Unterschied machen.

Wenn Du einen Wunsch frei hättest?

Ich würde mir wünschen, dass meine Generation sich bewusster mit Medien und Meinungen/ Werten die darin widergespiegelt werden, auseinandersetzt. Das würde auch außerhalb der Sexualität bei vielen eine nachhaltigere Lebenseinstellung hervorrufen.

Was bedeutet für dich eine nachhaltigere Lebenseinstellung?

Sich v.a. auf sich zu konzentrieren. Also sich danach zu richten, was einen glücklich macht, was man erreichen möchte und so letztendlich auch was für ein Mensch man selber sein will. Ich finde es letztendlich fragwürdig, vor allem mit Hinsicht auf Selbsterfüllung, wenn Menschen sich zu sehr an anderen orientieren und Ihre Geschmäcker/Lebensgestaltung an die Meinungen von Leuten anpassen, mit denen Sie noch nie im Leben interagiert haben.

Das klingt alles sehr reflektiert für dein junges Alter. Was möchtest du noch lernen in diesem zwischenmenschlichen Bereich?

Mir ist in den letzten Wochen/Monaten aufgefallen, dass ich vor allem an meinem Feingefühl arbeiten muss. Ich erlebe ab und zu immer noch Situationen, wo mir im Nachhinein auffällt, dass ich Jenes nicht hätte sagen sollen, oder diese Botschaft vollkommen falsch interpretiert habe. Das liegt daran, dass ich selbst meistens sehr direkt und ehrlich kommuniziere, und dementsprechend ab und zu Probleme habe, wenn andere Leute mir auf eher indirektem Weg etwas vermitteln wollen.

Mit Tom kann man nicht nur richtig gut diskutieren, sondern auch viel Spaß haben, und ich bin jedes Mal sehr inspiriert, wenn ich aus einem Treffen mit ihm komme. Auf die Jugend!