Was bedeutet eine erfüllte Sexualität?
Diese Frage klingt etwas überlastet, Sie fragen ja auch nicht nach einer erfüllten Lebensqualität, oder? Sexualität ist ein wichtiger Teilaspekt der Lebensqualität, die stets multidimensional ist, d.h. verschiedene Ebenen beschreibt, körperliche, seelische und soziale Aspekte einschließt. Die Zufriedenheit und das Erleben der Sexualität sind sehr individuell, letztendlich ist es die Summe der zwei Fragen: „Wie soll meine Sexualität sein?“ und „Wie ist meine Sexualität?“.
Warum ist Sexualität ein so tabuisiertes Thema in der Medizin und der Gesellschaft?
Medizin ist häufig ein Spiegelbild der Gesellschaft, wenn etwas in der Gesellschaft tabuisiert ist, dann ist es häufig auch in der Medizin so, ohne dies als Entschuldigung verstehen lassen zu wollen.
Sexualität ist für viele Mediziner ein sehr schwieriges Thema, und zwar deswegen, weil der Mediziner in der Regel nicht gerne über Sexualität spricht. Und zwar aus zwei Gründen.
Erstens ist er dafür nicht richtig ausgebildet. Er weiß zwar aus der Psychologie etwas, er kennt auch die ein oder andere Situation mit Patientinnen und dass es Einbußen in der Sexualität gibt.
Die Zusatzausbildung Sexualmedizin ist in den Anfängen und die Rahmenbedingungen in den Kliniken und Praxen sind dafür nicht sozialisiert. Das Thema wird häufig nach hinten gestellt, auch wenn wir wissen, dass es ein Riesenthema ist und auch die Lebensqualität beeinflusst. Wir haben gerade in einer wissenschaftlichen Untersuchung gezeigt, dass sogar die Prognose durch Sexualität beeinflusst wird. Patientinnen, die gar nicht an Sex denken leben kürzer als Patientinnen, die an Sexualität denken. Das finde ich extrem interessant. (Ich auch Anmerkung Heike Niemeier)
Zweitens müsste ich mich ja selbst damit auch irgendwie auseinandergesetzt haben, wenn ich jetzt über Sexualität reden sollte. Der Arzt ist so sozialisiert, dass er versucht alle medizinischen Probleme zu lösen, von der Diagnose über die Therapie und der Nachsorge. Und wir wissen, dass dieses Thema Sexualität eher ein interprofessionelles Konzept ist. Ich habe eine Ärztin in meinem Team, die sich mit Sexualmedizin sehr auseinandersetzt, und seitdem ich weiß, dass ich sie als Instrument habe, spreche ich das Thema viel häufiger an, weil ich es sofort delegieren kann. Aber dazu muss man auch die Strukturen haben.
Was bedeutet dann gute Sexualität?
Gute Sexualität ist, wenn Menschen davon zehren können. Wenn das zu Ihrem Lebensrhythmus passt, wenn Sexualität Harmonie und Energie stiftend ist. Das ist meiner Meinung nach „gute Sexualität“. Denn es geht jetzt sicherlich nicht nur um die körperliche Ebene, sondern es geht um das an sich Heranlassen, das Fallenlassen, das Sinnhafte, die Melodie der Bewegung der Sinne, dass sich verstanden fühlen.
Was kann man tun um Missverständnisse in der Kommunikation zu vermeiden?
Der erste Schritt für mich ist, dass man Menschen, ihre Bedürfnisse und Erwartungen wahrnimmt und beschreibt und das erst einmal zulässt. Und meine Erfahrung, sowohl im beruflichen als auch im privaten Leben hat mir gezeigt, dass viele Dinge im Leben nicht unbedingt Gender definiert sind, sondern von der sozialen Umgebung, der Kultur und der Erfahrung. Und deswegen ist es für mich eher eine Gender unabhängige Frage.
Man sollte nicht immer gleich bewerten, denn das ist zu einfach. Das ist eine Frau, die macht es so, das ist ein Mann, der macht das so. Das ist eine Italienerin, die macht es so. Das ist ein Marokkaner, der macht es so. So ist es aber nicht. Das erscheint mir respektlos so zu pauschalisieren.
Es hat damit zu tun, wie dieser Mensch aufgewachsen ist, wie er mit Zutrauen, mit Angst, mit Intimität umgeht. Wie er gelernt hat, darüber zu sprechen und es zulässt. Es geht nicht darum mit welchem Pass ein Mensch geboren wurde, sondern es geht mir um die Vielfältigkeit. Und ich möchte mich davor bewahren, andere Menschen zu bewerten, im Sinne, dass ich sie verstehen muss. Ich muss sie gar nicht verstehen und mich muss auch keiner verstehen. Aber man muss irgendwie mit mir in Beziehung gehen können. Deswegen geht es eher darum passt es oder passt es nicht? Das ist mir wichtiger, als jemanden zu verstehen.
Was ist aus Sicht eines Arztes wichtig um sich mit seinen Patienten dem Thema Sexualität im Gespräch zu nähern?
Als erstes ist Vertrauen wichtig und dieses Vertrauen muss sukzessiv aufgebaut werden und bedarf Zeit und häufig vieler Gespräche. Außerdem sollte die Patientin oder der Patient gefragt werden, ob dieses Thema wichtig für sie/ihn ist und sie /er Unterstützung braucht. Hier hilft es sehr, wenn professionelle Strukturen existieren, und die weitere Begleitung an andere delegiert werden kann. Ein Chirurg muss nicht operieren und gleichzeitig als Sexualmediziner fungieren, besser ist hier eine klare Trennung und das Arbeiten und Wirken innerhalb eines professionellen Netzwerkes.
Sie haben einen Wunsch frei – welcher wäre das?
Mein größter Wunsch ist das meine Familie gesund bleibt, und wir mehr gemeinsame Zeit haben, dem Geschenk des Lebens zu danken. Da fehlt mir selbst, aber auch meiner Umgebung, häufig die Demut. Und ich wünsche mir, dass ich noch so viel Sinnhaftes und Schönes wie möglich mit meiner Familie, mit meiner Frau und meinen Kindern erleben werde.
Prof. Dr. med. Dr. h.c. Jalid Sehouli ist Direktor der Klinik für Gynäkologie mit Zentrum für onkologische Chirurgie Charité Campus Virchow-Klinikum und Leiter des Gynäkologischen Tumorzentrums und Europäischen Kompetenzzentrums für Eierstockkrebs (EKZE). Sein Spezialgebiet ist die experimentell-operative Gynäkologie und Onkochirurgie sowie das Thema Arzt-Patienten-Kommunikation (Breaking Bad News). Hierzu hat er ein sehr erfolgreiches Buch geschrieben (Über die Kunst schlechte Nachrichten gut zu überbringen, Kösel Verlag und ist Autor auch weiterer belletristischer Bücher.
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Jalid Sahouli Wikipedia Eintrag
Jalid Sahouli Website